Don’t shoot the messenger! – Frank Castorfs Ring in Bayreuth

Vorbemerkung: Ursprünglich war diese Rezension als ein Leserbrief geplant, das ist aber gründlich schiefgegangen, kein Mensch schreibt einen Leserbrief, der genauso lang ist wie der Artikel, auf den er sich bezieht. Das hier ist meine erste Opernrezension. Eine Oper zu renzensieren halte ich für das schwierigste, was es gibt. Schwieriger als ein Buch oder ein Film. Denn eine Oper besteht aus  vielen sehr dicht miteinander verbundenen Ebenen, denen allen Rechnung zu tragen ist. Die Musik als Komposition. Gesang und Orchester. Der Inhalt der Oper und die Inszenierung. Die darstellerische und sängerische Umsetzung auf der Bühne. Die musikalische Leitung aus dem Orchestergraben heraus. Und im Falle meines Leserbriefs kommt noch die Bewertung der Bewertung hinzu.

Liebe Frau Lemke-Matwey,

Mit der grotesken Vorgabe von nur 1500 Wörtern vier Opern durchzurezensieren (hatte das Feuilleton damals so viel mehr anderes, noch Spannenderes im Sommerloch zu berichten?), das gelingt Ihnen gut, wenngleich etwas weniger Details aus dem Rheingold auch ok gewesen wären.

Sie stellen rasch die richtige Frage: Wollen wir Wagner, wirklich? Vermutlich nicht, denn wenn man ihn (wie Castorf) unverblümt interpretiert, kommt dabei ziemlich viel auf die Bühne, was viele schick gekleidete Menschen in lauen Sommernächten zwischen Weißwein und Festival Sausage nicht sehen möchten: Wotan, der lüsterne Gottvater, der in jedem Hafen, also in jedem Bühnenbild eine andere hat (und sei es nur durch ein kurzes Andeuten) oder Siegfried, der untreue Idiot mit den viel zu mächtigen Waffen.

In der Darstellung all dieser Personen, in der Sichtbarmachung ihres wahren Charakters (können die Drei, die den größten Schatz des Nibelungenreiches bewachen überhaupt unschuldig sein?), aber auch in den Interaktionen untereinander, liegt die Größe dieses Rings, den Sie – teils geschickt („Inszenieren bis der Arzt kommt“), teils ungeschickt („Kasperletheater“ vs. „Hoch lebe Castorf“) – uneindeutig bewertet haben. Ihre Einschätzung, dass Castorf gar nicht so tut, als würde er den Ring inszenieren liest sich zwar gut und könnte als eleganter Verriss durchgehen, geht aber an der Realität dieser Inszenierung in absurdem Maße vorbei.

Denn mit ein, zwei Ausnahmen waren alle Darsteller auf der Bühne präsent, wie ich das selten erlebt habe: Ihre darstellerische Präsenz, ihre unbändige Spielfreude, das war großartig. Unterstützt vom perfekten Timing, wenn die Bühne ein Motiv der Musik aufnimmt, sei es eine kleine Geste zur kühlenden Labung oder ein Tanzschritt im Augenblick der Leichtigkeit des Seins war eine Lebendigkeit zu erleben, die ihresgleichen sucht. Neben dem durchgehend fantastischen Stefan Vinke als Siegfried, ist exemplarisch, der für den Faust 2017 nominierte Georg Zeppenfeld zu erwähnen, von dem meine Begleitung und ich noch Angst hatten, als seine Figur, Hunding, bereits tot war (Video-Einspielung sei Dank!). Wann wurde die Parallelwelt der Gibichungen mit Gunther und Hagen jemals so spannend und testosterongefüllt dargestellt? Die Regie nutzte das ganze Wagner-Potenzial und generierte viele spannungsgeladene Dyaden und Triaden, ließ die Charaktere leben und sterben. Die Sänger, sogar der stark singende Männerchor, nahmen den Schauspielauftrag mit Bravour an: Hochmut, Habgier, Rachsucht, Missgunst, welche Todsünde ließ Wagner, welche Todsünde ließ Castorf aus?

Wollen wir wirklich Wagner? Castorf scheint diese Frage dem Publikum tatsächlich zu stellen. Beispielsweise wenn die Video-Einspielung nur das zeigt, was gerade eigentlich wirklich passiert: Siegfried, der sein Leben lang nur eine Person gekannt hat und deshalb eine menschliche Sau sein muss, zieht, nach dem Bad im Blut des Wurmes, blutüberströmt durch die Wälder. Welche Frau, und hätte sie noch so lange in einem Feuerring geschlafen, will denn so ein Ungeheuer? Deutlicher als hier, kann man nicht sagen, diese Oper und ihr urdeutscher, mystischer Unterbau ist – abgesehen von allem Meta-Text à la Kapitalismuskritik – auch einfach ein großer, großer Quatsch. Drei Nornen spinnen das Seil des Schicksals? Wer hier Castorf allen Ernstes den Vorwurf machen möge (um mich herum im Publikum wurde viel der Kopf geschüttelt), dass das Zeigen von Voodoo Unsinn ist, sollte eher dem Nibelungenstoff (und Wagner) den Vorwurf machen und nicht dem, der es – mit klaren Bildern übersetzt – präsentiert. Don’t shoot the messenger.

Es mag zwar keine total zusammenhängende Geschichte à la Chérau sein, wie die Kollegin Büning kritisiert, aber der abstrahierte Handlungsort Kapitalismus (Götter & Gibichungen) versus Kommunismus (Hundings und Fafners Reich) bleibt über die dreieinhalb Abende konsistent und ist nicht beliebig, wie es wohl damals unter Tankred Dorst war. Und mit Ausnahme der Wall Street in der Götterdämmerung, als Castorf tatsächlich nichts mehr einzufallen scheint (und sind wir ehrlich auch Wagner: Die Hälfte der Zeit wird auf Rückblicke verschwendet), werden diese Kulissen genutzt und logisch in die Inszenierung miteingebunden. Alleine die Bühnenbilder rechtfertigen den horrenden Ticketpreis: großartiger als ein kommunistischer Mount Rushmore, der aserbaidschanische Ölförderturm oder der Berliner Alex kann ich mir kein Bühnenbild dieser Welt vorstellen.

Allerdings blieben uns als ziemlich weit außen im Parkett Sitzende einige szenische Teile versperrt, der tote Winkel ist enorm. Lächerlich wurde es, als beim Auftritt der Walküren die Videoleinwand das eigentliche Geschehen verdeckte und man mit der an dieser Stelle sinnlosen Videoprojektion vorlieb nehmen musste. Der tote Winkel in Bayreuth ist übrigens so groß, dass die Herrschaften, die ganz rechts außen im Parkett saßen, die in Akt 2 und 3 in einem Rollstuhl am Bühnenrand singende Catherine Foster, die wegen einer in der ersten Pause zugezogenen Verletzung nicht mehr laufen und daher Brünnhilde nicht mehr spielen konnte, gar nicht sahen. Das erzählten mir Englisch sprechende Menschen, die den vom Festspielleiter vor Akt 2 nur auf Deutsch gegebenen Hinweis über die Verletzung von Frau Foster nicht verstehen konnten und daher etwas verwirrt waren, wieso denn jetzt auf einmal jemand anders für Brünnhilde auf der Bühne stand.

Musikalisch war der Ring natürlich souverän. Es ist abzuwägen ob man Wagner den Vorwurf machen kann, keine trockenen Rezitative komponiert zu haben oder den Sängern mangelnde Textverständlichkeit (wo bleiben die Übertitel??!??!?!) anzukreiden. Sängerisch gibt es eigentlich nur fast alle zu loben: Die drei Rheintöchter als wunderbares Trio, Siegfried als überzeugender, kraftvoller Jungspund, der mit seiner Tarnkappe eine ganz andere Klangfarbe erzeugte, Erda als starke Urgöttin, Fafner als grausamer Wurm, natürlich Hunding als der Böseste von allen und Brünnhilde, die mit ihrer klangschönen Soprankeule jeden Abend gefeiert wurde. Die beiden Wotans blieben deutlich unter ihren Möglichkeiten, Alberich blieb blass, aber das war es auch schon Mäkeleien auf hohem Niveau. Kritisiert werden darf aber trotz der Souveränität insgesamt das Dirigat: Marek Janowski, nach dem Rheingold fälschlicherweise für Castorf gehalten, wurde ausgebuht. Soweit wäre ich nie gegangen, aber überirdisch, wie manch anderes, was man erleben durfte, war das Dirigat nicht: Dazu waren die Einsätze von Gesang und Orchester oft nicht beisammen, das sonst wegen des vielen An- und Abschwellens der Streicher sonst so spannende Vorspiel zur Walküre war dynamisch eher plump, das zweite Schmiedelied war an der untersten Tempogrenze (ok, ich nehme alles zurück, wenn das so von Wagner gewollt war, dann aber Dank an Georg Solti, der in seiner CD-Einspielung darüber hinweg sah) und von einem feinem Spinnen und Weben, wie es Kirill Petrenko zugeschrieben wurde, war die Musik weit weg. Auch viele Mitglieder des Orchesters drifteten gedanklich schon wieder in den normalen musikalischen Alltag, der sie im September erwarten würde, ab: Die ersten Takte des Siegfrieds hätte man wiederholen müssen, da war nichts zusammen und über die verschiedenen Abende schmierte mal diese, mal jene Instrumentengruppe komplett ab: Einmal das höhere Blech, als eine Fanfare ganz geschluckt wurde, einmal das hohe Holz bei Brünnhildes Erwachen, aber auch die Streicher erlaubten sich mehr als einmal kurz auf die Intonation zu verzichten.

Doch noch einmal zurück vom Ring zur Inszenierung. Die Fülle an Ideen wie das Libretto, zwar modern, aber nah am Text, umgesetzt wurde, schien endlos, dazu vier simple Beispiele: 1. Der bauernschlaue Mime, der belesene Asoziale, der mit vielen Büchern im Trailerpark vegetiert. 2. Erda als Erzgenervte, die einfach nur in Ruhe gelassen werden will und sich für ihren Auftritt hinter den Kulissen die richtige Perücke aufsetzen lässt; als Wotan sie wegschickt, taucht sie noch ein zweites Mal als feuchter Traum für ihn auf. 3. Siegfried für die Tarnhelm-Szene nicht nur andere Klamotten, eine andere Tonlage sondern auch noch eine andere Frisur (seine echte nämlich: eine Glatze) zu verschaffen, damit ich als Publikum wirklich überlegen musste, wer da gerade auf der Bühne steht und singt. 4. Die Hintergrundgeschichte von Siegmund und Sieglinde als Video-Installation zu erzählen und damit noch einmal Wotans Promiskuität deutlich zu machen. Viel näher an Wagner kann eine zeitgenössische Inszenierung nicht kommen. Die Ausstattung und die Kostüme zeigten, dass man eben aber auf die Raben, das verlorene Auge, den Feuerring, den Speer, den Brustpanzer (!) und ein echtes Schwert (wobei die AK47 auch gut war, hier geht es ja um die mächtigste Waffe der Welt!) nicht verzichten muss, nur weil die Inszenierung in der jüngeren Geschichte spielt. Die Kostüme fügten sich ebenfalls exzellent ein und unterstrichen die vielen Charaktere, die intuitiv zu erkennen waren, ganz individuell. Ein Hingucker: Der Waldvogel als echten Friedrichstadtpalast-Vogel am Alexanderplatz auftreten zu lassen, war wohl einer der schönsten Einfälle des Regieteams.  Was soll daran „disparat“ sein, Frau Lemke-Matwey?

Wollen wir wirklich Wagner? Loriot hat diese Frage in seiner großartigen Zusammenfassung, die übrigens bald in Mannheim mit Catherine Foster (!) zu sehen ist, wohl mit Ja beantwortet. Man kann Wagner toll finden und dennoch akzeptieren, dass Vieles von der Geschichte, Vieles im Libretto wahrlich zu bekloppt ist, um es komplett ernst zu nehmen. Wer im Siegfried kein einziges Mal lachen kann (weil es freiwillig oder unfreiwillig komisch ist), der oder die (Frau Büning, Sie haben ja zugegeben, dass es immerhin lustig ist) hat das Wesen dieses Stücks nicht verstanden. Frank Castorf hat die Absurdität dieser ganzen Geschichte den Leute vor Augen geführt und die Längen, die sehr wohl vorhanden sind, halt mit Krokodilen gefüllt. Wer wollte ihm es angesichts dieses riesigen, spannenden, mitreißenden Opernspaßes, den er erschaffen hat, verdenken?

Eine Antwort zu “Don’t shoot the messenger! – Frank Castorfs Ring in Bayreuth

  1. Unglaublich, diese (Meta-)Rezension. Da hat sich der Autor selbst in Wagner- und Castorf-Flughöhen erhoben und segelt dann ganz selbstbewußt durch sein eigenes Wissen, seine Interpretationen und seine innige Verbundenheit mit der Inszenierung, der Musik und dem ganzen Opernhaus. Dabei nimmt er auch in Kauf, in der einen oder anderen Turbulenz seines Schreibstils, einer gewissen Selbstironie zu erliegen, um sich dann doch noch in letzter Sekunde und um Haaresbreite wieder auf die dem Leser angemessene Flughöhe zu begeben.

    Congratulations!
    R.

Kommentierung erwünscht (aber bitte ersichtlich machen, wer da schreibt, wir sind hier nicht tagesschau.de)

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