Fremde Mäuler sind keine Basketballkörbe

Nun sitze ich hier im Schnellzug von Berlin, wo ich ein nettes Praktikum in „Mitte“ verbringen darf. Der Zug fährt in Richtung München, wo ich dann in ca. 2 Stunden auch hoffentlich aussteigen darf, wenn mal wieder kein Tier über die Schienen springt. Das käm dann wieder in den Nachrichten, ich wäre mächtig stolz dabei gewesen zu sein und könnte mit einem sehr seltenen Bahnerlebnis prahlen, aber alle anderen würden auf die Bahn eindreschen, ganz besonders auf Mehdorn. Oder die unschuldigen Zugbegleiter. Wie immer und besonders eben freitags, wie ich als treuer Bahnfahrer weiß. Denn an denen scheint sich scheinbar halb Deutschland durch halb Deutschland zu bewegend, doch der Coole kann durch keine Signalstörung, Zugausfälle sondern höchstens noch durch herumtollende Tiere davon abgehalten zu werden, sich seiner Zeitung oder seinem Laptop zuzuwenden.

Ich fahre gerade rückwärts in einem ICE-Modell, bei dem die Sitzflächen nicht zu verlängern sind. Links von mir auf der anderen Seite des Ganges sitzt eine, die nach Traunstein fährt. Einer Mitreisenden hat sie erzählt, dass das bei Salzburg liegt. Großzügig verortet, dachte ich mir. Schräg rechts gegenüber auf meiner Seite sitzt eine ganz nette Frau, die häufiger mal im Buch Tintenherz liest, doch nie länger als eine Seite. Tintenherz und ich haben uns kurz über die Abartigkeit der Einstellung der Klimaanlage des ICE‘s unterhalten. Aber mehr als nur kurze Meinungsaustausche gehen in Zügen eigentlich nicht. Also zwischen Freunden, Bekannten und Zugpersonal schon, aber die kennt man ja. Jeez! Wie der Amerikaner sagen würde, ich muss hier in Nürnberch aussteigen, um 25% früher in München Hbf einzutrudeln.

Ok, also wo waren wir stehengeblieben? Ich wollte schreiben, dass ich das Praktikum in Berlin Unter den Linden – direkt gegenüber von „Madame Tussauds“ Touristenabzocke mache. Meiner strengen Observanz entgeht nicht, dass die Hauptstadt wie auch die übrige Republik vom alljährlichen Besuch der Schwiegermutter, auf allen Fernsehsendern und Rundfunkanstalten Sommerpause genannt, heimgesucht wird. „Sonst würde einem mehr geboten“ versichert man mir fast täglich. Sitzungen mit Merkel. Joa warum nicht, ist bestimmt eine Erfahrung für das nächste Klassentreffen wert.

Aber wie dem auch sei, ich rausche jetzt mit 173 km/h durch Bayern und schaue mal wie schnell wir werden. Schneller, als 250 mit Sicherheit nicht, ist ja jetzt nur ein alter ICE 1. Letzte Woche bin ich ja schick mit 300 Sachen durch Rheinland-Pfalz gedüst, die Strecke war aber unspektakulärer als gedacht, ziemlich langweilig sogar. Gegen die flugähnlichen Gefühle, die einem bei Fulda-Kassel aufsteigen, kommt eben wenig an. Selbst wenn man noch so schnell ist. Mittlerweile fahren wir 219, das kann sich ja sehen lassen auch international. China hat heute eine Schnellfahrtstrecke eröffnet. Nachdem der Transrapid – in Memoriam Ede – The Muschi Caller – Stoiber – (nicht zu verwechseln mit Fränky – dem Berserker – Müller) auch für Fernasiaten zu teuer war, haben sie, Berichten des Tagesspiegels zufolge, jetzt wenigsten Züge auf ICE 3-Technik basierend.

Gerade eben hab ich einen Baum stehen sehen, der stand am Rande eines Waldgebiets, alle Bäume waren normal hoch in den Himmel gewachsen, doch er? Biegt sich, als wäre er aus Gummi. Yammi yammi yammi, SWR1 geht mir gerade durch den Kopf. Genauso wie der Gedanke, dass wir durch einen Tunnel (mit Betonung auf der letzten Silbe) fahren, die Ohren kurz „zu gehen“ und man schlucken oder Kaugummi kauen muss. Erinnert sich noch irgendjemand außer mir an die schrecklich bescheuerten Kaugummi-ins-Ohr-Steck-Witze? Ja? Dann bitte melden. Katze verloren und dringend gesucht.

Zurück zum letzten angeschlagenen Thema: Dieses etwas ungesunde Gefühl mit den Ohren, überfiel auch die Freundin eines Kumpels, die es alsbald in gemütlicher Runde zum Besten gab. Ich fragte sofort, weil ich den Ort wissen wollte, an dem ihr es passiert ist, nach der Strecke Mannheim-Stuttgart und somit in der Hoffnung, dass wir beide etwas mehr gemeinsam haben. Es trennt uns nichts, aber ich hoffte dennoch, denn wer fährt schon so häufig mit rasender Geschwindigkeit von Nordbaden ins Ländle? Also die gute Frau fuhr wie zu erwartend NICHT von Mannheim nach Stuttgart oder umgekehrt, sondern von Kaiserslautern nach Neustadt. Stimmt dachte ich, da zieht’s auch so manches Mal in den Lauschern. Aber nicht so schön wie im ICE.

Die Strecke Nürnberg-Ingolstadt, an einem lauen Sommerabend, bei angenehmen Klimaanlagen-Temperaturen im neuen Zug ist auch schön. Wenn man sie nicht kennt, aber dafür Kassel-Fulda, dann hat man sich das vorzustellen wie Kassel-Fulda, bloß, dass man weniger über Brücken fährt und somit die Berggipfel über und nicht auf Augenhöhe sind. Das Flair besitzt aber auch gewisse Ähnlichkeiten (Das Auf und Ab sowie die Autobahn) von Frankfurt-Siegburg/Bonn. Und immer schön Dämmwälle links und rechts gegen einspringendes Wild. Kreativ sind die Erschaffer von Bahnlinien heute nicht mehr. Kämpften sie sich früher wie ein Pionier durch die Ebenen und Mittelgebirge Deutschlands, so ist die Taktik heutiger Streckenplaner, einfach an eine bestehende Schnellstraße „dranhängen“ und allen Bahnfahrern wenigstens für Sekunden das Gefühl geben, dass sie schneller am Ziel sind und die nie aufhörende Diskussion Automobil vs. Bahn in eine neue Runde zu führen.

Interessant sind die Schilder zu beobachten, wenn die Augen es noch mitmachen. Da gab es nämlich gerade auf einem einzigen Schild eine Abfahrt nach Nürnberg, eine nach München und eine nach Berlin. Da kann man ja gleich Heidelberg, Ludwigshafen und Kiew mit einem Schild deklarieren. Ah, jetzt reicht es aber mit dem Schnellfahren, dafür stinkt es etwas komisch, als hätte der Zug zu stark gebremst. Dabei habe ich doch gar keine negativen G-Kräfte gespürt. Und ich dachte immer, die ICEs wären schick versiegelt ohne Kontakt zur Außenwelt wie es früher bei den guten alten Interregios üblich war. Mit Fenstern zum selber Öffnen und rausgucken. Besonders kurz vor und nach Bahnhöfen, war es immer sehr schön zu spüren. Das Gefühl von Ankommen und Abfahren. Die Ruhe nach dem beträchtlichen Lärm, den der Zug von sich gab, – nicht, dass heutige Züge geräuschlos wären, die Sounddesigner arbeiten gewissenhaft daran, dass man durch Quietschen und Knattern erinnert wird: Noch bist du nicht im Himmel! – war einfach atemberaubend und ich schwelge gerne in dieser und jener Erinnerung.

Zurückgepfiffen von seinen Eltern, wenn der Zug zu schnell wurde, der Kopf aber immer noch zentimeternah an den Metallpfeilern vorbeirauschte. Fliegen im Gesicht, Fliegen in den Mund, kein gutes Gefühl, aber diese unfreiwillige Form der Eiweißaufnahme werden zukünftige Generationen wohl kaum mehr kennenlernen. Sie fahren weder Fahrrad, noch joggen sie durch tropische Wälder. Auch die Debatten, ob das Fenster jetzt auf bleibt oder nicht, gehörten jedesmal dazu. Leider hat sich keine der sich mir ins Gedächtnis gebrannten Diskussionen auf einen derartigen Unterhaltungswert geschaukelt wie die le-gen-dä-re Szene mit Müller-Lüdenscheid und Pohl (war doch Pohl?) und der Ente. Wäre auch langweilig, jede Unterredung im Stile von „hach-Loriot“ zu führen.

Was mich heute besonders aufregt? Rücksichtslose Personen im näheren Bekanntenkreis (#1), Olympic Greenwashing à la –shake it baby – E-on (#2) und Schimmliges Brot. Schmälert das Vergnügen, Schimmliges Brot dädä dädädää. Ein toller Hit und dank YouTube auch für die Generation @-2.0 super zu erreichen. Streunende Zugfahrer (#3). Was ich heute besonders schön fand: Dass ich es innerhalb von weniger als zwanzig Minuten mit der U-Bahn von der Schönhausener Allee über den Alexanderplätz bis zu Gleis 4 des Hbf Berlin geschafft habe. Hätte ich es nicht geschafft, wäre das jetzt #4 in meinem Unmutsranking, das aber somit hübsch übersichtlich bleibt. Ja das war das einzige was mich erfreut hat. Nein, dass ich (wieder) Alleinunterhalter spielen durfte für zwei Grazien. Grummel. Und dafür dann 3,50 ausgegeben. Achja, wirkliche #4 wird jetzt die Tatsache, dass ich 40 Minuten früher als geplant ankommen werde. Ich hatte mir ursprünglich meine Zeit so schön eingerichtet, denn ich bin jedes Mal froh, wenn mir jemand Zeit schenkt – auch wenn meist nur in Form von Flatrate-Zugfahrkarten geschehen –, denn wann sonst kann man ohne schlechtes Gewissen eindösen, anderen beim Eindösen zuschauen und sich dabei denken, „wieso döst der denn so gemütlich und guckt nicht raus?“

Heute zu Beginn der Fahrt (also noch lange vor Haltestellen, mit kessen Namen wie „Jena Paradies“ oder „Lutherstadt-Wittenberg“) saß mir ein Herr gegenüber, der mich sehr an eine mittlerweile abgesetzte Bahnwerbung erinnert hat. Das Wetter hat nicht gestimmt, aber die Tatsache, dass er direkt vor mir mit offenem Mund döste und ich ihm gedanklich ein Kilogramm Papierkügelchen in den Mund hätte werfen können, allein dieser Gedanke daran, hat mich schon glücklich gemacht. Wahrscheinlich glücklicher, als hätte ich diesen Plan umgesetzt. Denn ich wollte nicht meine ungelesene Zeitung für Albernheiten verschwenden und auch die zu erwartenden Reaktionen meiner zahlenreichen Mitreisenden, wäre mir zu peinlich gewesen, denn mein miserables Wurfverhalten in Bezug auf aus-Reisplänen-gefertigten Papierkügelchen erstickte auch heute meine Pläne im Keim. Werfen war nie meine Stärke, früher nicht und heute erst recht. Das Nicht-Treffen der Mundhöhle, wäre wahrscheinlich noch peinlicher gewesen, wie als die Aktion als Grundidee. Mögliche Gedanken der Mitreisenden. „Junge, jetzt kannst du einmal genau DAS tun, wovon wir auch schon so lange ersehnt haben. Du kannst zu Ende bringen was uns in unseren kühnsten bahn.comfort-Träumen zu kühn erschien, aber dann versagst DU. Raus mit dir, wir wollen dich hier nie wieder sehen. Such dir ein Abteil und übe erst einmal an den klitzekleinen Mülleimern am Fenster, bevor du zu uns in den Großraumwagen wieder kommst. Bis dahin aber wird der werte Herr hier mit seinem Erwachen dein Zeitfenster geschlossen haben werden und DU hast deine Lektion ein für allemal gelernt. Fremde Mäuler sind keine Basketballkörbe, schreib dir das mit Bleistift (2B) hinter die Ohren!“

Nachtrag zu der Tunnel-Geschichte. Wie wohl auch der einfältigste Beobachter gemerkt haben dürfte, befand ich mich zu diesem Zeitpunkt in Gesellschaft, in welcher die Intercity-Strecke Mannheim-Stuttgart nicht sonderlich hohen Bekanntheitsgrad besitzt. Also so wie das Lied „Wissenswertes über Erlangen“. Daher kam es nicht zu folgender Situation, bei der am Ende in allen Gesichtern durch Peinlichkeit und Betroffenheit betretenes Schweigen einsetzte:

Sie (die Tunnelgeschädigte): „Also letztens sind mir beim Zugfahren echt die Ohren zugegangen…“

Die Meute (gierend nach Sensationen): *hechel* „Etwa auf der Strecke von Mannheim nach Stuttgart, kurz hinter Mannheim?“ *hechel*

Sie (verwundert): „Nein zwischen (___Platzhalter1___) und (___Platzhalter2___).“

Die Meute (sich von ihr abwendend und sich lautstark wichtigeren Gesprächsthemen widmend): „Grmpf.“

Ich ganz persönlich glaube, dass manche Sachverhalte sich schlecht durch Worte allein sich erklären lassen. Hoch lebe der Comic!

Eine Antwort zu “Fremde Mäuler sind keine Basketballkörbe

  1. Pohl? Dr. Kloebner, Sie Dilletant!

Kommentierung erwünscht (aber bitte ersichtlich machen, wer da schreibt, wir sind hier nicht tagesschau.de)

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