Ungewöhnliche Filme verlangen ungewöhnliche Rezensionen

Den Dokumentarfilm „A Map for Saturday“ habe ich Anfang 2012 in Queenstown (NZ, Südinsel) empfohlen bekommen, von einem, der nach 10 Jahren sein Studium abgebrochen hat und für lange Zeit in Melbourne lebte und dann auch nach Neuseeland kam, um dort nach ergebnisloser Jobsuche, in einer Autovermietung zu arbeiten. Sebastian hieß er und ich weiß erstaunlicherweise auch noch seinen Nachnamen, weil wir einige Zeit auf Facebook befreundet waren, bis ihm wohl meine kritischen Kommentare zu seinen pathetischen Beiträgen auf die Nerven gingen. In Queenstown aber verstanden wir uns gut, wir spielten Frisbeegolf, nee, Discgolf zusammen und wissen beide, dass „Toy Story 3“ einer der besten Filme aller Zeiten ist.

 „A Map for Saturday“ ist ein autobiografisches Werk, das die 11 monatige Reise eines Mitte/Ende zwanzigjährigen TV-Produzenten namens Brook aus Manhattan im 2005 zeigt. Der Film heißt so, weil auf Reisen oder auch Backpacking (wegen der Art des Gepäcks) genannt, wobei es auch Rucksacking heißen könnte[1], jeder Tag ein Samstag ist. Heute frei, morgen frei. Heute ausschlafen möglich, morgen ausschlafen möglich. Der Film ist sehenswert, weil er auf ungewollte Art und Weise einige Lügen des Langzeitreisens (+– 1 Jahr) aufdeckt. Um diese Lügen soll es in dem heutigen Blogbeitrag gehen. Den Film nachzuerzählen wäre trivial, die Reiseroute Brooks soll aber vorab bekannt gegeben werden: New York – Sydney – Melbourne – Bangkok – Laos – Vietnam – Phi Phi Island (Thailand) – Indien – UK – Festlandeuropa – Brasilien – Buenos Aires – New York.

  1. Backpacking ist Abenteuer / Backpacking steht im Kontrast zu anderen Reiseformen.

Im Bonusmaterial zum Film trifft der Filmemacher erneut ein paar seiner Reisebekanntschaften, unter anderem Sabrina aus Deutschland, mit der er kurz nach seiner Ankunft in Sydney für ein paar Wochen was am Laufen hatte. Sie war lediglich sechs Wochen am Reisen und lebte dann für insgesamt 1,5 Jahre mit ihrem australischen Freund erst in Australien und dann in Amsterdam. Ihr hatte das Reisen in Australien wenig Spaß gemacht, weil alles so gottverdammt durchorganisiert ist. Australien im 21. Jahrhundert zu bereisen ist, so zeigte es der Film und so hörte ich im echten Leben, auf den allermeisten Pfaden so spannend wie eine Kaffeefahrt von Hintertupfing an den Vorderhausener See und zurück. Es gibt Anbieter bei denen man alles vorab buchen kann, vor Ort wird man durchgeführt und durchgefüttert wird, um ja keine Sensation zu verpassen und das hat wohl auch Sabrina so erlebt, nachdem sie im uralten Van eines anderen Deutschen stundenlang durch die Gegend gefahren ist.

 Zu Beginn des Filmes beleuchtet der Autor / Kameramann / Regisseur Brook kurz wie Amerikaner sonst so reisen: Nämlich statusgerecht, zwei Wochen im Jahr auf einer Kreuzfahrt oder in einem Clubhotel auf einer warmen Insel, wenige Flugstunden entfernt. Von so einer Art des Weg-von-Daheim-Seins versuchen sich echte Backpacker zu lösen, um ja nicht zu ihnen zu gehören. Was aber unterscheidet aber den Backpacker am Taj Mahal vom Pauschaltouristen/Studiosus-Bucher am Taj Mahal? Richtig, nämlich ziemlich wenig. Wo sich aber Unterschiede auftun und das wird im Film auch deutlich, hängt ganz stark mit den Orten zusammen, die besucht werden. 2005 war Nepal noch ein Geheimtipp, kaum Reisende verschlug es dort hin, mittlerweile sieht das – so hörte ich von einem Inder in den Marlborough Sounds – anders aus. Allein der Weg nach Nepal, über den Landweg von Indien aus, war für Brook und seinen deutschen Kompagnon Christian ein großes Abenteuer mit Zügen, aus denen gesprungen werden muss, weil sie in die falsche Richtung fahren und wilden Grenzübertritten und dem Gefühl die einzigen Ausländer unter Einheimischen zu sein. Ist Backpacking ein Abenteuer? Die zu erwartende Antwort: Kommt darauf an!

  1. Backpacking ist für jeden etwas / Beim Backpacking trifft man so viele neue Menschen

Nein, ohne die richtige Einstellung wird das nichts. Als Deutscher kann man über die Sturheit der Amerikaner lachen, die Brook mit großen Augen anschauen, als der von seinen Plänen die Welt zu sehen berichtet. Oder über die amerikanischen Freunde, die ihn in Europa besuchen und sich zu fein für einfache Herbergen sind und europäische Toiletten furchtbar finden.[2] Nein, aber auch hierzulande ist nur ein Bruchteil der Leute bereit für einen langen Zeitraum alles Gewohnte zu verlassen und Unbekanntes (bzw. siehe Lüge 1) und neue Leute kennenzulernen. Aber eigentlich sind es die immer gleichen Menschen, die in den Hostels wohnen und reisen: Zwischen 18 und 35, gebildet, europäisch. Eine Ausnahme kommt im Film vor, nämlich ein 70 jähriger Amerikaner, der schon in allen 50 US-Bundesstaaten war und den Krebs überlebt hat. Die absolute Ausnahme und wohl eine Bereicherung für jeden Reisenden, denn wie der Film nach gut einer Stunde zeigt, sind die Gespräche unter den Leuten immer dieselben: Woher kommst du ursprünglich, wie lange bist du schon unterwegs, wo warst du schon, wo willst du noch hin? Auf diese Fragerei, diesen gewöhnlichsten aller Backpack-Smalltalk hat irgendwann keiner mehr Lust. Einen Ausweg aus dieser Sackgasse, intensivere Gespräche, möchte der Film aber nicht suggerieren. Denn aus amerikanischer Perspektive ist das Gesprächsthema Politik keine gute Idee: viele Anti-Bush-Banner aus aller Welt werden gezeigt, wobei der Film auch nicht zwischen Anti-Bushismus und Anti-Amerikanismus unterscheiden möchte. Andererseits wäre es vermessen Brook und den Amerikanern 2005 so viel Selbstreflexion zuzumuten, dass sie erkennen sollten, in welches Unglück Dabbelju und Kompagnons den Irak gestürzt haben.

  1. Beim Backpacking (ohne dauerhaften Reisepartner) lernt man viele Freunde kennen und fühlt sich niemals allein.

Die größte Lüge. Der ständige Ortswechsel, das ständige Hello-Goodbye zehrt am sozialen Wesen des Menschen. Sich auf Neues einlassen zu können, funktioniert zwar nur, wenn man auch Altes hinter sich lässt. Das funktioniert vielleicht noch bei Städten, aber Menschen, die ein Gedächtnis haben, wollen auch mehr über Menschen wissen als die Antworten auf die in Absatz 2  genannten Fragen. Und lässt man sich doch auf eine Beziehung ein, so wie Brook und Sabrina, dann muss (zuminest einer der beiden) irgendwann die Entscheidung treffen: Partner oder Welt.

  1. Backpacking macht offen für Neues

Wie viel Tolles verträgt der Mensch? Jeden Tag Action, jeden Tag Abenteuer (auch wenn’s nur ein Überlandbus von Stadt A nach Stadt B ist), jeden Tag Wildnis, jeden Tag fremde Kulturen! So kann’s gehen und so sollte es gehen, denn wozu ist man schließlich unterwegs? Nach ein paar Monaten (Zeitraum ist so dehnbar wie der Begriff, was man unter Backpacking versteht) kommt man zwangsläufig an den Punkt, an dem jeder noch so schicke Wasserfall und noch so imposante Tempelanlage einfach nur noch nervt. Einen Lösungsvorschlag dafür hält der Film nicht parat, ich würde sagen: Einfach mal zwei Wochen an einem Ort bleiben, ins Kino gehen, Couchsurfing ausprobieren, noch ne Woche bleiben, kleine Ausflüge mit dem Fahrrad machen.

  1. Backpacking ist oberflächlich

Der Film zeigt, dass man auch als Reisender helfen kann. Dabei geht es nicht um vorgebuchte Touren zu den Seychellen, um den dortigen Schildkröten beim Leben zuzuschauen oder Trips in tansanische Waisendörfer, in denen man zwei Monate bleibt und den wahren Helfern beim Helfen zuschaut. Brook hilft beim Wiederaufbau von Phi Phi Island, dem beim Tsunami 2004 zerstörten Ort, wo „The Beach“ gedreht wurde. Dass das nicht nur Show, sondern echt ist, muss man den Bildern einfach glauben, die These, dass der Staat diese Region im Stich lässt, um sie verhungern zu lassen, damit neue, fette Ressorts entstehen können, wirkt überzeugend. Dass Brook in Brasilien ausgeraubt wird, trägt nicht wirklich zum Spannungsbogen bei. Er hat schließlich nicht viel Geld verloren, dennoch gehört es zu den Wahrheiten, die den Reisenden klar gemacht werden müssen: Man erkennt euch und wenn man will, raubt man euch aus.

  1. Backpacking kostet nichts

Quatsch: Geld und Zeit. Was schwerer wiegt, bleibt im Einzelfall einzuschätzen und hängt miteinander zusammen.

  1. Backpacking macht welterfahren

Über kaum eine Frage wird wohl so viel gestritten wie darüber, was man wie lange besucht haben muss. Brook findet, dass acht Monate für Europa zu viel sind. Mit einer Liste würde ich ein Plädoyer dagegen formulieren: Irland, Schottland, Nordengland, Südengland, Wales, Island, Spitzbergen, Westnorwegen, Schweden, Berlin, Norddeutschland, Ostdeutschland, Westdeutschland, Süddeutschland, Nordfrankreich, Südfrankreich, Katalonien, Spanien, Portugal, Italien, Korsika und Sardinien, Vatikanstadt, Kroatien und Montenegro, Bulgarien, Türkei, Österreich, Schweiz, Polen, Russland. Bliebe man überall für nur eine Woche wäre schon eine Menge Zeit vergangen. Kommt man zurück nach Hause, sieht man die gewohnten Dinge mit anderen Augen und damit umzugehen, muss geübt werden und bleibt lebenslange Herausforderung. Denn sonst geht man sich und allen anderen auf die Nerven (in xy war das so, in yz so!).

Alles in allem also ein Film, der das Leben unterwegs zeigt. Stillt das Fernweh und macht zwischendrin glücklich und bald auch schon 10 Jahre alt, also ein Zeitdokument über eine Welt ohne die Abhängigkeit von Wlan.

Anmerkung: Diese Filmkritik wurde schon vor Urzeiten geschrieben, aber nie fertiggestellt.

[1] Kein Schmarrn, ein englischer Begriff für Rucksack ist Rucksack (RACKSÄCK!).

[2] Wobei das schon fast ironisch ist, aus einem Land zu kommen, das es weder schafft die Spalte zwischen Klotür und Klobox so schmal zu konstruieren, dass man NICHT dazwischen durchgucken kann, noch Klos zu bauen, in denen nicht so viel Wasser schwimmt, dass alles, was da reinfällt nicht nur einen Hauch (oder auch weniger) von dem entfernt rumtreibt, wo die Ausscheidung rauskommt.

Eine Antwort zu “Ungewöhnliche Filme verlangen ungewöhnliche Rezensionen

  1. Bei diesem Eintrag stelle ich fest, dass wir nie wirklich Gelegenheit hatten über deine Reise zu reden.

Kommentierung erwünscht (aber bitte ersichtlich machen, wer da schreibt, wir sind hier nicht tagesschau.de)

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