Die Temperatur der Tränen

Ein Freund, der zurzeit in der spanischen Hauptstadt sein Unwesen treibt, duscht ausschließlich kalt, weil der für seine Dusche zuständige Boiler kaputt ist. Das zieht im so manches Körperteil zusammen, schrieb er. Eine alltägliche Erfahrung für ihn, eine seltenere für mich. Jeder hat schon mal ähnliche Erfahrungen mit kaltem klaren Wasser gemacht. Wenn man sich die Finger so richtig verbrennt, dass es auch noch Tage danach durch eine schicke Brandblase dem Umfeld bewiesen wird, wie schlimm das doch war, da hilft kaltes klares Wasser, welches man sofort auf die schmerzende Stelle fließen lässt. Unbestritten ist auch die reinigende Wirkung bei einer vergnügten Wanderung durch Berglandschaften. Das prickelnde Gefühl auf der Haut, erzeugt durch Wasser, das durch ein verrostetes Brunnenrohr gepumpt wird, wenn es an einem warmen Sommertag langsam wieder verdunstet, verdampft und verschwindet, gehört wohl zu den schönsten Erinnerungen an solche Wanderungen, die heute im Universum der englisch-deutschen Begriffe irgendwo zwischen Hiking, Trekking und Mounting anzusiedeln sind.

Ganz besonders leiden die Kinder am meisten darunter, dass der Vater in seinem Bürojob nicht genügend Natur zu Gesicht bekommt. Sie – die Kinder und meist auch die Ehefrau – wissen, dass aber das Eintauchen des ganzen Körpers wie es bei Taufen im Christentum früher, und bei den Zeugen Jehovas heute noch, üblich ist, durch das Hineinfallen verursacht, keine schöne Erinnerung produzieren, sondern lediglich Chaos und vielen Tränen, also weiteres Wasser, aber bestimmt kein kaltes, sondern körpertemperaturwarmes. Aber so genau will ich das ja auch nicht wissen, denn ich beschäftige mich hier ja mit kaltem klaren Wasser und nicht mit irgendwelcher lauwarmen salzigen Brühe, die irgendwo in Nasennebenhöhlennähe auf ihren großen Auftritt wartend, hin und her schwappt.

Beim Schlagwort Tauchen behaupten Saunierende und Kneipiers das Gegenteil: Tunkt man ganze Körperteile oder sogar sich selbst unter Wasser sei es sogar gut für die Gesundheit, predigen die Finnen da oben im Norden und die Apostel der Gesundheit hier unten! Sollen sie predigen, kaltes Wasser ist aber noch zu viel mehr gut sage ich, als in es einfach hineinzuspringen oder zwanghaft lächelnd im Kreis zu waten und dann auch noch Blätter an die Füße kriegen, weil das Becken nicht regelmäßig gereinigt wird.

Kürzlich bekam ich eine Zahnschiene für meine knirschenden Zähne und die Zahnarzthilfe gab mir bei der Übergabe den Reinigungshinweis, dass ich die Zahnschiene lediglich mit kaltem Wasser ausspülen möge. Das war auch der Tropfen der das sprichwörtliche Fass der Motivation diesen Text zu schreiben zum Überlaufen brachte. Wieso aber nicht mit warmen oder lauwarmen Wasser dachte ich mir schon damals im knalligen Weiß des Behandlungsraumes 2, während sie mir das blaue Abbild meines Obergebisses mit der plastikhaft-glänzenden Schiene samt trivialer Zewa-Verpackung für den Nachhausewege in die Hand drückte. Kann nur kaltes Wasser den Schmutz, der sich während der Nacht auf der Schiene abgelagert hat, lösen? Werden erst ab einer gefühlt kalten Temperatur Botenstoffe, Enzyme und was weiß ich noch freigesetzt? Verhält es sich mit einer Zahnschiene also wie mit Feldsalat? Wäscht man den mit nicht eiskaltem Wasser, so zerfällt er und ist fortan nicht mehr für den Tisch zur Mahlzeit bestimmt. Wer häufig in der Küche steht weiß so etwas. Wer nicht, der denkt sich, der spinnt wohl, aber jeder macht ja seine eigenen Erfahrungen und so auch ich mit dem Internet. Kaum glaubt man, man hätte schon das für sich Wichtige rausgefunden, die Standartwebsites gebookmarkt und arbeitet tagtäglich die immer gleichen Websites ab, bekommt man einen heißen Geheimtipp, der einen zu einer unglaublichen Homepage führt, bei der man wieder Stunden um Stunden verbringen kann. Mein persönliches Highlight lässt sich gut mit meinem Verhalten beim Metzger vergleichen. Dort gibt‘s ja auch allerlei fleischige Leckereien zu stolzen Preisen, die von ebenso stolzen Verkäuferinnen mit mühevollem nach vorne Beugen und Abschneiden und Abwiegen und ins Kundengesicht Blicken unters Volk verkauft werden.[1] Meistens nimmt man sich das Bekannte, das Vertraute oder leichte Variationen davon. Richtig Spektakuläres wie Gänseleberpastete im Rotkehlchenspeck-Physalismantel oder Schweinekrustenbraten mit vierfach gebeizter argentinischer Wildschweinschwarte kommen so gut wie gar nicht auf den Abendbrottisch. Allein der Aufwand sich die Namen zu merken ist anstrengend, dabei überfordert alleine die Salamiauswahl in einem gut sortierten Geschäft.

Auch sonst gibt es keine Unterschiede zwischen Wurstfachgeschäften und dem Internet. Denn nicht jeder kann es betreten, der Wahl des Zeitpunkts des Aufenthaltes sind durch die gelockerten Ladenöffnungszeiten fast keine Grenzen gesetzt[2] und selbst schmutzige Ecken gibt es. Damit meine ich keineswegs die nicht nach Ladenschluss geputzten Ecken und Stellen im Verkaufsraum oder frivol gedacht die Besenkammer oder wie in „Der tote Taucher im Wald“ „die eine Szene“ am Brätanrührer, sondern der Ausdruck ist ausschließlich folgendermaßen angedacht: Eine Metzgerei verkauft traditionsgemäß seit 1893 Wurstwaren. Doch uns Menschen reicht das nicht. Wir wollen – glaubt man den Gesetzen von Angebot und Nachfrage – auch Salate, wie Kartoffelsalat mit Speck oder Gurkensalat mit Hering, die mit dem eigentlich Kerngeschäft mit dem „Carne Vale“ – also dem Verlangen nach Fleisch – kaum mehr was zu tun haben. Pfui Teufel, da kann man ja gleich auf http://www.sex.com gehen, wenn man durch die Weiten des WorldWideWebs wabert, so primitiv ist das. Billiger geht es ja wohl kaum noch. Nur weil sich die Faulheit der Kunden selbst einen gemeinen Salat zu kreieren auf die kreative Produktpalettenerweiterung der Metzgersfrau trifft und somit ein guter Handel für beide Seiten entsteht, rechtfertigt das noch lange gar kein bisschen nichts. Gut fürs Geschäft sei das allerdings, meinen mit Sicherheit die Metzger wie zum Beispiel – Achtung Kalauer-Alarm – der Oswald oder der Stefan Raab und drohen mit ihren riesigen japanischen Schlachtermessern. Gut fürs gute Geschäft sei angeblich auch Krautsalat, schlecht fürs Geschäft zuviel Tabasco, Peperoni und bekanntgewordene Schwarzkonten im Emirat Lichtenstein.

Dieses Fürstentum liegt – glaubt man den alltäglichen Fernsehbildern und Atlanten – inmitten von viel Gebirge. Dort müssten ja dann auch logischerweise Quellen mit kalten klaren Wasser fließen. Vielleicht sind diese Quellen der Ursprung zu einem Technohit von der Jahrtausendwende, der tatsächlich „kaltes klares Wasser“ hieß. Die Musik plätscherte natürlich nicht, sondern hämmerte damals ein, wie einer der konzentrierten Wasserstrahle im Schwimmbad, die meistens gleich neben dem sprudelnden Fliegenpilz zu finden sind.[3] Gesprochen wurde – jetzt beim hören auf youtube.com – der überschaubare Text von einer Frau, die spricht Deutsch und das äußerst akzentbelastet und keinesfalls grammatisch korrekt. Aber wer tut das schon heute. Selbst auf Untertiteln von teuren DVDs findet sich gelegentlich ein Fauxpas, der einem die ungeliebten Tränen in[4] die Augen treiben wie Schafshirten ihre Schafe in die Box wie in dem Klassiker „Ein Schweinchen namens Babe“.

Was hat man durch das Lesen dieses Textes gelernt? Warmes Wasser ist selten gut! Wem ich noch nicht genügend Beispiele aufgezählt habe, hier noch eine Handvoll zum Schluss. Wärme alleine ist schon unbehaglich. Nicht nur wenn man sich sie einverleibt (Warmes Bier und warmer Weißwein), ebenfalls das bloße Berühren mit der nackten Haut (auf warmen Toilettensitzen) ruft bei jedem Ästhet regelrechte Ekelgefühle hervor. Dieselben unschönen Gefühle kommen hoch, wenn man gerade so richtig im Sommer am Planschen und Treiben, am Untertauchen (ab 3Metern wird’s in jedem Baggerweiher saukalt, aber auch sehr dunkel und trübe) und Auftauchen, kurz gesagt beim Schwimmen ist und man in eine warme Stelle schwimmt. Glaubt man Schwimmflügel in Schwimmrichtung im Glitzern des Sees ausgemacht zu haben ist das definitiv keine schöne Kausalitätskette, die einem da durch den Kopf jagt. Ist man jedoch allein, kein Problem, so freut man sich kurz über die seltsamen Strömungen, und schon ist alles gut. Deshalb: Kaltes Klares Wasser ist gut und bleibt gut, nichts und niemand ändert seinen Aggregatszustand, weder inkontinente Kinder, noch abzuspülende Zahnschienen, aber hier und da tut Abwechslung richtig gut.


[1] Dazu eine Randgeschichte. Doch davor das nötige Witzverständnisswissen. Die Lebensmittelkette EDEKA wirbt mit einem Werbespot „Wir lieben Lebensmittel“. Dazu bestellt ein Mann Wurst und bekommt auf das Gramm exakt soviel wie er bestellt hat, schaut die Verkäuferin erstaunt an, sie grinst und freut sich, das Ganze wiederholt sich ein paar Dutzend mal und am Ende kommt der besagte Slogan, der so dümmlich ist, wie fast alle Werbeslogans. Zu meiner Geschichte. Ich bestellte also bei einer Metzgerfrau 100 Gramm Wurst und sie packte mir 102 Gramm ein. Ich bestellte 150 Gramm Schwarzwälder Schinken und sie packte mir 154 Gramm ein. Zu guter Letzt bestellte ich 100 Gramm Braten und sie gab mir 100 Gramm Braten, die sie stolz mit folgendem Satz kommentierte: „Auch wir lieben Lebensmittel!“

[2] Als die Ladenöffnungszeiten so um 1998 verlängert wurden, von 18 auf 20 und samstags auf 18 Uhr, gab es deutschlandweite Proteste dagegen, von Verrohung der Gesellschaft und dem Ende der westlichen Zivilisation war die Rede und selten hatte die Kirche so eine starke Öffentlichkeit hinter sich wie damals. Doch seit kurzer Zeit interessiert trotz viel krasserer Zeiten (Samstags bis um 22h, in Berlin praktisch rund um die Uhr) es keinen Menschen mehr, wie lange man shoppen oder gar einkaufen kann. Die Föderalismusreform, die die Ladenöffnungszeiten als Aufgabe der Länder beschloss, machte es möglich. Deutschland bewegt sich!

[3] Schnelle Recherche ergab, dass ich nicht den NRW NDW-Hit von „malaria“ meinte sondern den von „chicks on speed“.

[4] Eigentlich müsste es doch aus den Augen treiben? Denn das Wasser läuft ja runter!

Kommentierung erwünscht (aber bitte ersichtlich machen, wer da schreibt, wir sind hier nicht tagesschau.de)

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